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Explosion in einer Chemiefabrik in Toulouse

 

 

 

 

Die Wut der "Fensterlosen"

21. SEPTEMBER 2001 IN TOULOUSE

Die Explosion in einer Chemiefabrik führt zur furchtbarsten Industrie-Katastrophe in Frankreich seit 50 Jahren - die sozialen Folgen sind noch immer erschreckend

Die französische Sprache ist um ein Wort reicher. Aus gegebenem Anlass. Das Wort heißt "les sans fenêtres" - "die Fensterlosen" - eine Art Weiterentwicklung von "les sans-abris" - "die Obdachlosen". Mehr als 15.000 Wohnungen fallen derzeit in der südfranzösischen Großstadt Toulouse unter diese Kategorie.

Um Fenster, Türen oder Dach hat sie die Explosion in der Chemiefabrik AZF am südlichen Stadtrand gebracht, als dort am 21. September ein Lager mit rund 300 Tonnen Ammonsalpeter in die Luft flog - die furchtbarste Industriekatastrophe auf französischem Boden nach 1945.

Noch auf der nahe gelegenen Autobahn sahen die Opfer des Infernos aus wie die staubverkrusteten Lemuren aus dem World Trade Center, die am 11. September durch Manhattan irrten.

30 Tote waren in Toulouse zu beklagen, über 2.500 Verletzte.

Die zuständige Staatsanwaltschaft bemühte sich danach auffallend schnell, "mit einer 99prozentigen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen", dass "ein akuter Störfall im Werk" die Katastrophe ausgelöst habe.

Eine nicht absolut stichhaltige, allzu eilfertige Schlussfolgerung, meinen AZF-Mitarbeiter, Experten, vor allem etliche Zeugen. Der Vergleich mit ähnlichen Unfällen, etwa 1921 bei BASF in Ludwigshafen, spricht gegen die in Toulouse kolportierte "Kompost-These", wonach sich die Chemikalien durch schlampigen, unsachgemäßen Umgang selbst entzündet hätten.

Bei vergleichbaren Fällen brach entweder ein Großfeuer aus oder aber die Verbindung mit anderen Stoffen führte zur Explosion. Außerdem hätte es nach der "Kompost-These" nur eine einzige Detonation geben dürfen. Viele Zeugen sprechen hingegen von zwei, die sie kurz nacheinander gehört haben.

Inzwischen existiert jedenfalls ein klarer Beweis für zwei Explosionen.

Warum wird in den vorliegenden Untersuchungsberichten - nach "detaillierten Erhebungen am Explosionskrater", wie es heißt - weiter auf der "Kompost-Version" bestanden? Und warum bleiben bislang alle Expertisen eine klare Antwort auf die Schlüsselfrage des Geschehens vom 21. September schuldig? Was wurde etwa 30 Minuten vor dem Inferno noch auf die Deponie gekippt?

Eine mögliche Erklärung ergibt sich aus den mitunter rüden Kampfmethoden bei Arbeitskämpfen in französischen Unternehmen. Dass eine Belegschaft damit droht, Produktionsanlagen zu zerstören - beispielsweise Gasbehälter zu sprengen oder Abfälle anzuzünden - kommt vor.

Irgendwelche Schließungspläne oder Entlassungen standen nicht auf der Tagesordnung.

Schockierte, verunsicherte Bürger von Toulouse gründeten im Schatten der Katastrophe die Initiative Plus jamais ca! (So etwas nie wieder!), um die wahrlich bestürzenden Sicherheitsmängel bei AZF Toulouse anzuprangen, dann aber festzustellen, dass zunächst einmal die Stadtverwaltung ein soziales Ertüchtigungsprogramm braucht.

"Bei uns husten alle". Dieser Satz verfolgt den Hausarzt schon bis in seine Alpträume hinein. Doktor Jean-Luc Benoît hat seine Praxis im Wohngebiet Papus, wo am 21. September kaum ein Fenster heil blieb. Die Geschädigten haben sich danach über Plastikplanen der Stadt freuen dürfen - ein Geschenk, um die Löcher in den Wänden abzudichten. Es kam Ende September - bis Ende November ist es dabei geblieben.

In Papus jedenfalls kann sich kaum einer den benötgten Handwerker auf eigene Rechnung leisten. Also hockt das junge Ehepaar Garnier im einzig bewohnbaren Raum der Zwei-Zimmer-Wohnung. Cathérine zuckt bei jedem lauten Geräusch panisch zusammen. Sie habe Schlafstörungen und Kopfschmerzen seit dem 21. September, erzählt sie, und nachts schrecke sie immer wieder hoch.

Doktor Benoît diagnostiziert nicht nur Erkältungen ohne Ende. "Die Leute hier haben auch mit allen möglichen psychischen Störungen zu kämpfen. Besonders die Alten, aber auch junge Mütter, die wegen der Kinder die meiste Zeit des Tages in ihrer verdunkelten Wohnung verbringen müssen, leiden unter Lichtmangel.

Hunderte von Familien aus den Häusern in Papus, die nach der Havarie völlig unbewohnbar waren, mussten quer durch Toulouse an die nördliche Peripherie ziehen, um dort in Campingwagen untergebracht zu werden.

Aus einem Übergangs- wird nun das Winterquartier - eine rustikale Dependance der perfekten Metropole, die "untröstlich" ist, augenblicklich nicht mehr tun zu können.

Aber wer ein Asyl im Campingwagen fand, soll dankbar sein. Als "Fensterloser" hat er ausgesorgt.